Brief an einen FreundLieber D.,
wenn du schreibst, wie sehr dich das alles berührt, was auf der Welt an Zerstörung läuft, fühle ich mich dir total nah, weil es mir genauso geht. Es tut mir auch leid um jeden Baum, um jeden Wal, um jeden Fluss! Um all die zertretene Liebe, Zartheit und Süße und Schönheit. Um die Kinder, die von Minen zerfetzt werden oder ihre Eltern verlieren; um die Frauen, die missbraucht, verstümmelt und vergewaltigt werden; um die Männer, die im Krieg ihr Leben, ihre Arme und Beine und, fast noch schlimmer, ihre Fähigkeit zu fühlen und zu vertrauen und zu lieben verlieren.
Dann ist da noch das andere, das, was nicht Zerstörung ist, das, was mein Herz singen lässt. Die Schönheit der Natur, selbst auf einem winzigen Fleckchen, selbst in einer Blume, die aus dem Asphalt wächst. Und das, was du von deinen Glücksgefühlen im Wald und mit deinen Lieben und beim Radfahren in Sonne und Wind erzählst. Überhaupt, der Wind, die Sonne, das Wasser und die Erde! Schatten und Licht, das Spiel der Farben ... die Musik! Beethovens Neunte zum Beispiel entdecke ich gerade. Und zur Natur gehören ja auch unsere Körper – auch die können so schön sein! Besonders, wenn sie beseelt sind, wie bei den Blumen, den Bäumen und den Tieren, und wohl auch den Steinen und allem anderen.
Und dann gibt es noch all die wunderbaren Ereignisse, die geschehen, wenn wir auf die Liebe, auf unsere innere Stimme, auf unsere Träume vertrauen und ihnen folgen, und die zeigen, dass alles ganz anders ist, als uns unsere Eltern und Großeltern vorgelebt haben. Nichts ist, wie es scheint, Angst LÜGT! Immer. Und wie! Wie gedruckt. Wenn ich bedenke, was Angst mir alles einflüstert, wenn ich damit schwanger gehe, etwas zu tun, was für sie (die Angst) ein Wagnis ist, egal wie klein oder groß die Sache an sich von außen betrachtet sein mag! Unglaublich, was die alles sagt die Angst. Ich hab schon Nächte wach im Bett gelegen und mir das angehört, den Krampf und die Enge gespürt, die damit einhergehen, und gewusst: Egal, ich tus, und wenn nicht jetzt, dann später. „Geh und die Angst ist gegangen“, hat mir mal jemand gesagt – es stimmt! Und wenn ichs dann getan habe, ist es IMMER gutgegangen. Es hat manchmal Krusten aufgebrochen und Schmerz und Unbequemlichkeit mit sich gebracht, aber auch so viele Wunder! Und weniges ist so schlimm wie dieses lebendig begraben sein, solange ich es nicht tue. Leben ist so unglaublich, wenn es wirkliches Leben ist, jenseits der Angst! „Wenn wir wüssten, wie frei wir sein könnten, würden wir platzen!“ (Noldi Alder). Platzen aber ja nur, wenn wir die unbändige Freude dann nicht ausdrücken und umsetzen, mit Singen, Tönen, Schreien oder Tanzen. Dann wird es Lust.
Als ich Teenie war, ich erinnere mich noch, habe ich manchmal resigniert gedacht: Schade, dass die Neue Welt schon entdeckt ist, dass die Wissenschaft auch schon das Wesentliche entdeckt hat. Wie schade, dass es für mich kein wirklich großes Abenteuer mehr zu leben gibt! Das würde mir gefallen! Später, als ich dann auf dem Abenteuer der Selbstentdeckung war, habe ich mich daran erinnert und musste lächeln! Meine schlummernde Sehnsucht, Unbekanntes zu erforschen, Verborgenes aufzudecken, mich der Ungewissheit zu stellen und der Weisheit des ungesicherten Lebens hinzugeben, stellt sich jetzt doch als erfüllbar heraus! Nicht immer habe ich den Mut, dem Ruf zu folgen, manchmal schlottere ich vor Angst, aber die Gewissheit, dass ich es früher oder später wahrscheinlich tun werde, wenn es wirklich ein Anliegen ist, macht die Enge erträglicher. Und wenn ich es dann irgendwann tue – welche Lebendigkeit und welche Freude!
Wenn du sagst, dass du deine Sehnsucht nach mehr an Leben – nach mehr Raum für Schöpferisches oder anderes, was dir am Herzen liegt – begraben hast, weil es dir an Kraft und Mut fehlt, all dem, was sich in den Weg stellt, zu begegnen; wenn du sagst, dass du dich mit einer gehörigen Portion Skepsis gewappnet hast, um in dieser kranken, heillosen Welt zu leben ohne durchzudrehen, finde ich das verständlich und gleichzeitig so traurig! Ich kenne die Angst ja auch, und wie! Gleichzeitig kann ich nicht verstehen, wie wir auf Dauer auf dieses wunderbare Lebendige, dieses Spannende einfach verzichten! Zwischendurch haue ich auch immer mal wieder ab und fliehe mich in scheinbare Sicherheit und Bequemlichkeit, aber lange halte ich es nicht aus, weil es so trostlos ist, lebendig tot zu sein. Weil das, was winkt, so geil ist! Und meine Kraft und mein Mut kommen immer aus meiner Sehnsucht, die viel größer ist als Petra in ihrer Angst! Deswegen nähre ich meine Sehnsucht und empfinde sie als das Kostbarste, was ich habe. In Wahrheit ist sie vielleicht einfach die Liebe, die ICH BIN.
In meiner Kindheit und Jugend, in der ich mich vom Leben abgeschnitten fühlte, gab es eine Erfahrung, die mich jedes Mal wie elektrisiert zurückließ. Sie war selten, und nachdem sie vorbei war, vergaß ich sie seltsamerweise bald. Um mich, wenn sie das nächste Mal wie aus dem Nichts auftauchte, zu erinnern: „Das kennst du doch! Wie konntest du es nur vergessen! Was ist das?!“ Es geschah so selten, ich habe dir bestimmt nie davon erzählt damals.
Es ist schwierig, die Erfahrung in Worte zu fassen, aber was geschah, war ungefähr folgendes: Manchmal, wenn ich im Grauen so meiner Wege ging – vielleicht an einem trüben Wintermorgen im Dunkel zur Schule – überfiel mich für den Bruchteil einer Sekunde aus heiterem Himmel eine Schau, eine Süße, ein blitzartiges Öffnen eines Schleiers, das den Blick freigab auf eine Glückseligkeit, für die ich damals nicht einmal den Namen „Glückseligkeit“ hatte, und die sich mir entzog, sobald ich einen Schimmer von ihr erhascht und geschmeckt hatte, und noch bevor ich überhaupt „richtig“ hinschauen und -spüren konnte.
Es ging alles so schnell, dass nur der Schmerz, der blieb – ein scharfer, körperlicher, verzweifelter Schmerz, dieses nicht halten zu können, mir zeigte, dass ich wirklich etwas erlebt hatte. Die Frage: „Was ist das? Wie komme ich da wieder hin?!“ wurde jedes Mal wieder wach.
Und auch wenn ich sie dann wieder vergaß – die Erfahrung nährte in mir den Samen des Erinnerns an etwas, das ich ganz tief innen wußte und weiß: Das Paradies in mir existiert, denn ich habe es geschmeckt, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Und wenn ich dann Castaneda las, oder jetzt andere, die über die unsichtbaren Welten schreiben, zum Beispiel dieses, ein Bericht von einer Reise ins Innere: „Die Musik der Wellen ist in ihrer Schönheit beinahe hypnotisch. Der Klang scheint sich durch mich hindurch zu bewegen; er hallt tief im Innern meines Körpers und Geistes wider. Es ist schwer zu beschreiben, aber das Meer scheint Liebe auszustrahlen. Während die Musik mich durchflutet, ist mir, als würde ich von den Schwingungen des Liedes gestreichelt.
Während ich aufs Meer hinausblicke, versetzen die wechselnden Farben der Wellen mich in Erstaunen. Niemals zuvor habe ich etwas Vergleichbares gesehen. Schimmernde Färbungen verschmelzen und mischen sich, um zahllose leuchtende Farbwirbel zu bilden. Die Farben entziehen sich jeder Beschreibung; Millionen von Schatten und Tönen verändern und vermischen sich zu einem fließenden Lichtspiel von unbeschreiblicher Schönheit.“ (William Buhlmann, auf einer einer Reisen jenseits des Körperlichen). Der schreibt auch, das Universum, das wir um uns herum sehen [und unser Körper!] ist nicht der Mittelpunkt der Realität; es ist lediglich die Kruste, die dünne, äußere Schicht des unsichtbaren Universums, dünn wie der Zuckerguss auf einem riesigen, unsichtbaren Kuchen.
Wenn ich das lese, dann erkenne ich es wieder als das, worauf ich damals einen Blick erhascht habe. Und wenn ich mich erinnere, will ich alles tun, oder vielmehr lassen – denn zu einem großen Teil geht es ja darum, dass ich mit meinem Angstkrampf einfach aus dem Weg gehe und loslasse – um das zu meiner Lebenserfahrung zu machen, in diesem Körper, nicht erst danach. Mittlerweile kenne ich viele, die so etwas erleben. Ich weiß jetzt, dass jeder von uns diesen Zugang hat, weil wir das, was wir da finden, selber SIND! Nur die Angst hält uns zurück und umgibt uns mit dichten Schleiern, die es dann so aussehen lassen, als gäbe es nichts anderes jenseits der Schleier, jedenfalls nicht für uns. Dabei SIND wir selber das, was jenseits der Schleier liegt! Wie sollten wir dann keinen Zugang dazu haben?! Du spürst es ja auch, dass der Zugang da ist, obwohl du glaubtest, du hättest ihn nicht. Er ist nur verschüttet. Diesen Zugang wieder zu öffnen, freizulegen und dann zu leben, was da herausfließt, das finde ich so lockend, auch wenn es beängstigend scheint. Wenn ich das nicht tue, wozu lebe ich dann?
Ich konnte dem „normalen“ Leben mit essen, schlafen, Arbeit, Schule, verlieben, Haus bauen, in Urlaub fahren, Feste feiern, all die täglichen Rituale und Sitten nie was abgewinnen. Habe mich immer gefragt, schon als Kind, wie es sein kann, dass alle um mich herum das als ausreichend hinzunehmen schienen.
Diese Unzufriedenheit hat mich auf die Suche geschickt, dafür war sie gut. Jetzt erst erfahre ich, dass auch in diesem einfachen Dasein, aber nicht in dem, wo wir uns und einander was vormachen, sondern in dem Dasein, wo wir wirklich da sind, mit uns selbst, in unserem Körper, mit einem Baum, oder einem Menschen, oder einer Blume oder einem Käfer, Glück liegen kann. Und wie schwer es mir fällt, das zu erleben, weil ich ungeduldig bin und davonlaufen will, wenn ich nicht gleich was spüre. Oder vielmehr, wenn ich erst mal nur Trauer oder Leere oder Langeweile spüre. Ich weiß noch, wie ich irgendwann vor vielen Jahren einmal eine Postkarte gesehen habe, wo so ein alter, bärtiger Mann mit einer Rose drauf war, ein Afghane, und im Hintergrund waren Berge. Und außer ihm und den Bergen und der Rose war offensichtlich nichts da. Und er sah so glücklich aus! Darum habe ich ihn beneidet, dass er in dieser scheinbaren Leere so glücklich aussehen kann. „Was macht der nur den ganzen Tag, tagein, tagaus, nachtein, nachtaus? Wie macht der das, bei diesem einfachen Leben so glücklich zu sein?!“ Weil ich ja mit meinem ablenkungsreichen Leben mit all dem Konsum nicht glücklich war, konnte ich mir schon vorstellen, dass das eine Spur ist, aber wie er das aushält, diese „Leere“, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich habe immer viel gelesen, um die Leere zu füllen. Spannende Bücher mit Abenteuern und wahren Geschichten.
Irgendwann um die dreißig war dann klar, dass dieses ständige Lesen und dabei in Leben von anderen Menschen oder erdachten Personen abtauchen ein Weglaufen aus meinem eigenen ist. Dass etwas in mir einfach nichts tun will, wenn nichts zu tun ist, nicht lesen. Ich bin mit einer Freundin in Urlaub gefahren, die viele Bücher mitgenommen hat, in ein Dorf in Portugal, ohne Bücher. Es war ein schauriger Urlaub, sie hat gelesen, und ich habe mich gelangweilt, aber ich wusste, dass es da lang geht: Nichts tun wenn nichts zu tun ist.Und ansonsten Holz hacken und Wasser tragen, wie im Zen.
Seit zwanzig Jahren begleitet mich dieses Thema jetzt und es geht immer besser, nichts zu tun wenn nichts zu tun ist. Einfach innezuhalten und zu warten, welcher Impuls als nächstes kommt. Das sind die Richtungen, die mich locken: dieses einfach Dasein und Ausdrücken, was hochkommt, und dieses Erforschen des Unbekannten, wachwerden für all die anderen Dimensionen jenseits von 3D, die auf uns warten. Neues Bewusstsein ist für mich eine erweiterte Sicht der Dinge.
Jetzt habe ich viel geschrieben. Wenn du bis hier gelesen hast, haben wir vielleicht dieselbe Sehnsucht.
Bis zum nächsten Mal,
Petra